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Das wunderbar normale Leben

Veröffentlicht am 22.03.2020

 

In diesen Zeiten, in denen wir zu einem Sprung hinaus aus unserer gewohnten Normalität gezwungen werden, frage ich mich, was ist eigentlich ein normales Leben? Im Tattvabodha, einer Schrift des Vedanta, lehrt der indische Philosoph Sankaracarya, dass ein Menschenleben normalerweise sechs verschiedene Phasen durchlebt.

Zunächst treten wir in die Phase der Existenz ein. Es folgt die Geburt, das Wachstum, die Reife, der Zerfall und der Tod. Diese Phasenabfolge ändert sich jetzt, da wir zum „Springen“ hinaus aus unserem gewohnten Lebensgang gezwungen werden, nicht wirklich. Dennoch erlebe ich in diesen wunderbar sonnigen Frühlingstagen mein Leben nicht mehr als so ganz normal. Daher frage ich mich, was steckt hinter meiner Vorstellung von Normalität?

Meine Wahrnehmung vom normalen Leben scheint stark mit einem Gefühl von Freiheit verbunden zu sein. Mein alltägliches Tun kann seinen gewohnten Gang gehen, wenn ich innerhalb einer sichergestellten gesellschaftlichen Ordnung in grösstmöglicher persönlicher Freiheit leben kann. Nun wird gerade einerseits meine Freiheit massiv eingeschränkt, während andererseits die äusseren ordnungsstiftenden Strukturen wie Arbeit, Schule, Freizeit- und Kulturangebote in sich zusammengefallen sind. Bars, Kaffees und Geschäfte müssen geschlossen bleiben. Die Regale in den Lebensmittelläden werden leergekauft. Grenzen werden geschlossen, der öffentliche Verkehr wird massiv eingeschränkt, ganze Orte und Regionen sind abgeriegelt, isoliert. Die Kinder gehen nicht zur Schule und im Radio werden wir stündlich mit eindringlicher Stimmer aufgefordert: „Bleiben Sie zu Hause!“

Das öffentliche Leben steht nahezu still. Es herrscht Notrecht, der Bundesrat befielt. Wir haben uns zu fügen, Zuwiderhandeln kann gebüsst oder sogar mit Gefängnis bestraft werden. All dies führt dazu, dass sich mein Leben gerade nicht mehr so normal wie sonst anfühlt.

Wir befinden uns in einem seltsamen Vakuum zwischen selbstbewusst selbstbestimmter Normalität und massiven Einschränkungen unserer Lebensfreiheit. Die tatsächliche Realität der Epidemie ist mit voller Wucht in die normalen Abläufe unseres täglichen Lebens eingebrochen. Bei den einen stärker als bei den anderen, aber bei allen irgendwie.

Ungläubig nehme ich den Verlust von äusseren Strukturen einerseits und von persönlicher Freiheit andererseits hin. Mit Erstaunen sehe ich wie der sinnstiftende Rhythmus von Arbeit und Freizeit, von öffentlich und privat in sich zusammenbricht und in eine Disharmonie der alltäglichen Abläufe mündet. Die Weckrufe des Tages sind meinen Ohren plötzlich fremd und so reibe ich mir vom normalen Gang meines „In-der-Welt-sein“ schlaftrunken die Augen und realisiere, dass ganz unvermittelt ein globaler Ausnahmezustand über mich hereingebrochen ist und ich eigentlich gar nicht weiss, wie ich da hineingeraten bin.

Der deutsche Philosoph Martin Heidegger hat eindrücklich beschrieben wie grundlegend die alltäglichen Strukturen unseres normalen Lebens für unser Selbstverständnis und für unseren persönlichen Lebensentwurf sind. In seinem Monumentalwerkt Sein und Zeit sprach er vom strukturhaltigen „In-der-Welt-sein“ als „Grundverfassung des Daseins“. In dieser Grundverfassung, so Heidegger, sind wir schon immer auf existenzielle Art im Modus des Vertrautseins und des Gewohntseins, so dass wir in unserem alltäglichen Leben ganz selbstverständlich aufgehen und dass wir uns gewissermassen im Geist der Zeit verlieren. In diesem Sinne schreibt er:   

Dieser alltäglichen Ausgelegtheit, in die das Dasein zunächst hineinwächst, vermag es sich nie zu entziehen. In ihr und aus ihr und gegen sie vollzieht sich alles echte Verstehen. Das Dasein ist von ihm selbst als eigentlichem Selbstseinkönnen zunächst immer schon abgefallen und an die „Welt“ verfallen. Die Verfallenheit an die „Welt“ meint das Aufgehen im Miteinandersein. Die Herrschaft der öffentlichen Ausgelegheit hat sogar schon über die Möglichkeiten des Gestimmtseins entschieden, das heisst über die Grundart, in der sich das Dasein von der Welt angehen lässt. (Martin Heidegger, Sein und Zeit)

Diese Grundverfassung des Aufgehens im Miteinandersein, so Heidegger, hat die Konsequenz, dass mein Selbstseinkönnen immer in irgendeiner Weise an den Strom der öffentlichen Grundstimmung geknüpft ist. Dieser Strom beeinflusst unterschwellig meine Befindlichkeit und damit meine gesamte Sicht der Dinge. Die Beeinflussung durchströmt mein Leben auf den Ebenen, die jenseits des Verstandes liegen. Heidegger nennt diesen Strom der alltäglichen Öffentlichkeit das grosse „Man“:

Das Man zeichnet die Befindlichkeit vor, es bestimmt, was man und wie man „sieht“. Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heisst eigens ergriffenen Selbst unterscheiden. Als Man-selbst ist das jeweilige Dasein in das Man zerstreut und muss sich erst finden. (Martin Heidegger, Sein und Zeit)

Als ich vor kurzem noch durch Zürich streifte, rief mir die Abwesenheit des normalen Lebens ins Bewusstsein, wie stark ich in diesem Strom des Miteinanderseins verloren bin. Der unterschwellig still fliessende Strom der sozialen und gesellschaftlichen Denkmuster meiner Zeit, wurde plötzlich zu einem lauten, aufgewirbelten Getöse des Verlorensein als existenziale Grundverfasstheit meines Lebens.

In den menschenleeren Strassenzügen von Zürich überflutete mich meine Verlorenheit im gesellschaftlichen Gefüge und spülte zugleich den Grund einer Einsicht frei: Die meiste Zeit bin ich in dem „was-Man-denkt“ und in dem „was-Man-tut“ verloren, ohne je zu merken, dass ich darin verloren bin. Im Gegenteil, in meiner perfektionistischen Absicht, mein Leben in authentischer Freiheit zu führen, wähne ich mich in erhabenen Höhen jenseits der subtilen Beeinflussung durch das „was-Man-denkt“ oder „was-Man-tut“. Während ich weiter ging, fühlte ich mit durchdringender Klarheit, dass die äusseren Strukturen meines normalen Lebens in mir einen unglaublichen Druck aufgebaut hatten. Dieser unspezifische und sehr subtile Druck organisierte und beeinflusste den Fluss meiner gesamten Selbstwahrnehmung und die daraus resultierenden Aktivitäten. Subtil nenne ich diesen Druck, weil er zur Grundverfassung meines „Selbstseinkönnens“ gehört und mir daher in keiner Weise von „aussen“ aufgezwungen wird. Nach Heidegger ist dieser Druck so subtil, dass es ihn eigentlich gar nicht gibt, obwohl er da ist:

Das Dasein ist zunächst und zumeist von seiner Welt benommen. Diese Seinsart des Aufgehens in der Welt bestimmt wesentlich das Phänomen, dem wir jetzt nachgehen mit der Frage: wer ist es, der in der Alltäglichkeit das Dasein ist? Das „Wer“ ist das Neutrum das Man. (Martin Heidegger, Sein und Zeit)

In den sinnentleerten Strassen der Stadt, die auf einen Schlag ihrer menschlichen Fülle und Gedankenwelt entleert worden war, erfuhr ich eine Befreiung vom grossen Man und dabei öffnete sich ein Raum in meinem Innern hin zur Frage: Wer bin ich also wirklich?

Mit dieser Öffnung viel sogleich der Druck in meiner Herzgegend von mir ab. Dies geschah als ich wie gewohnt beim Gehen in die Schaufenster der Bahnhofstrasse schaute. Die Auslagen waren immer noch prall gefüllt und dennoch erschienen sie leer und tot. Die Aufhebung meiner Verlorenheit im Man äusserte sich darin, dass ich plötzlich nicht mehr begehren musste. Meine Augen blickten in die Auslagen der Warenhäuser und dabei wandte sich der Blick nach innen, so dass ich zwar sah, aber nicht mehr begehren musste. Ich traute mich, nicht mehr zu begehren, weil ich fühlte, dass ich nicht verloren bin: Ich bin In-der-Welt und darf darin aus meinem ganz eigenen Gefühl des Daseins aufgehen. Mit dieser Gewissheit im Herzen ging ich weiter und meine Ausdehnung wurde riesengross, so dass ich selbst die leeren Strassenzüge auszufüllen schien: Ich bin da und ich kann frei von Begehren durch die Stadt gehen! Für einen kurzen Moment drückte die Freiheit meinen geistigen Windungen den Hauch eines Abdrucks auf und darin lag die ganze Hoffnung dieser Zeit.  

In diesem Raum der Hoffnung kann sich die Normalität meines Lebens in ihrer ganzen Nacktheit und in ihrer durchdringenden Einfachheit und Tiefe präsentieren: Existenz, Geburt, Wachstum, Reife, Zerfall, Tod. Dies ist die normale Abfolge, dies ist der normale Verlauf eines Menschenlebens.

Der Ausbruch dieser leidvollen Epidemie könnte zur durchschlagenden Normalität des menschlichen Lebens, jenseits der absoluten Selbstermächtigung und hin zur ganzen Zerbrechlichkeit unseres alltäglichen Lebens, führen. Ich könnte mich nun mit Haut und Haar, Fleisch und Blut hineinbegeben in die absolute Normalität des menschlichen Lebens: Existenz, Geburt, Wachstum, Reife, Zerfall, Tod. Es ist ein Anfang der kontemplativen Beschäftigung mit dem Phänomen des Lebens. Ein Anfang, immerhin.