Bella ist aus ihrem schönen Häuschen mit Garten ausgezogen und hat ihren Mann und ihre ewig lebende Greisenkatze im Paradies zurückgelassen, um in eine kleine Wohnung in der Stadt zu ziehen. Heute bekommt sie dort zum ersten Mal Besuch vom Leben. Bella hat eingewilligt, dass das Leben in unregelmässigen Abständen über ihr Projekt, Yoga tatsächlich in ihrem alltäglichen Lebensvollzug zu verwirklichen, berichten wird. Das erste Gespräch zwischen Bella und dem Leben fällt einigermassen überraschend aus.
Leben: Bella, wie fühlst du dich in deiner neuen Wohnung, hast du dich schon ein wenig eingelebt?
Bella: Ja danke, ich fühle mich wohl hier in meinen eigenen vier Wänden. Aber es ist doch sehr anders als in meinem schönen Zuhause. Ich meine, es ist noch recht kahl und uneingerichtet.
Leben: Ja, ich muss sagen, ich war überrascht als ich zur Tür hereinkam. Mir macht es noch einen recht provisorischen Eindruck hier.
Bella: Ja, das stimmt wohl. Ich fühle mich im Moment auch in einem Provisorium. Ich habe das Gefühl, dass sich ein wirkliches Einrichten hier in dieser Wohnung nicht lohnt, weil ich in einigen Wochen sowieso wieder nach Hause zurückkehren werde.
Leben: Mir scheint, du bist in einem unglaublichen Zwiespalt.
Bella: Ja. ---- Aber weißt du Leben, bei mir zu Hause sind die Wände farbig und warm, hier hingegen ist alles weiss und kühl.
Leben: Wie wäre es, wenn du einige Bilder und zum Beispiel auch farbige Vorhänge aufhängen würdest?
Bella: Ja, vielleicht.
Leben: Hast du dir dein Leben in der eigenen Wohnung anders vorgestellt?
Bella: Nein ich glaube nicht.
Leben: Dennoch spüre ich einen unglaublichen Widerwillen in dir, dich hier in deinen vier Wänden tatsächlich häuslich einzurichten und niederzulassen.
Bella: Ja, das ist wohl so. ---- Magst du einen Kaffee?
Leben: Ja, gern.
Bella: Aber setzt dich doch, mache es dir bequem!
Leben: Vielen Dank, doch bleiben wir bei der Sache, mir scheint du versucht ein wenig von mir abzulenken oder täusche ich mich?
Bella: Ach weißt du, Leben, plötzlich merke ich, dass meine Welt, in der ich mich bis jetzt wohl fühlte und in der ich eine Art Lebensberechtigung für mich sah, eigentlich gar nicht existiert. Es war eine Welt, in der ich glaubte, dir nahe zu sein, doch nun, wo du mir tatsächlich leibhaftig gegenüber sitzt, merke ich, dass es ganz im Gegenteil nur eine Traumhülle war, die mich von dir isolierte.
Leben: Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich verstehe. Willst du sagen, dass du dich in eine Traumwelt geflüchtet hast, die dich von mir, also vom richtigen Leben fernhält?
Bella: Ja, ich denke das ist so.
Leben: Aber du willst doch leben!? In deinem letzten Gedicht schreibst du „Ach Leben nähmest du mich doch mit“. Bella, in diesem Gedicht flehst du mich geradezu an, dass ich dich in meinen Strudel hereinziehe und mitreisse!
Bella: Ich glaube, ich sah dich immer irgendwie in meiner Welt enthalten, du und ich, Bella und das Leben. Nun merke ich, dass ich mich geirrt habe. Ich bin ganz alleine in meiner Welt, da ist niemand ausser mir und schon gar nicht du! Nun in dieser schrecklichen Wohnung kommst du zu Besuch und es scheint mir, als ob mir ein Fremder gegenüber sitzt. Bisher war ich immer von dir getrennt, eingehüllt in einen schalldichten Cocon, in dem es für dich keine Luft zum Atmen gab.
Leben: Das ist für mich schwierig zu verstehen. Wie konntest du davon ausgehen, dass ich dir in deiner isolierten Welt nahe sein würde! Hast du tatsächlich geglaubt, du und ich wären die einzigen auf dieser Welt?!
Bella: Nein, natürlich nicht so direkt – und dennoch auf gewisse Weise schon. Ich glaubte mich in einer tiefen Verbindung mit dir zu fühlen. Nun merke ich, dass ich mich geirrt habe, dass dieses Gefühl nicht echt war und von dir in keiner Weise erwidert wurde.
Leben: Das wusste ich nicht! Ich habe im Gegenteil immer gedacht, dass du mich ausschalten oder zumindest ruhig stellen wolltest. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung von deiner Sehnsucht nach mir. Darum haben mich die Worte in deinem Gedicht an mich so überrascht und berührt.
Bella: Oh nein, ich wollte dich ganz bestimmt nicht ausschalten! Ich fühlte mich im Cocon meiner Welt ganz im Gegenteil eins mit dir! Ich glaubte, in diesem Cocon könnte ich mich in dir ausleben. Nun wird mir klar, dass dies eine vollkommene Illusion war!
Leben: Wie meinst du das, worin bestand diese Illusion?
Bella: Ich hatte die Vorstellung, dass ich in meiner Welt geschützt bleiben könnte und dennoch in Verbindung mit den Anderen stehen würde.
Leben: Das verstehe ich nicht, wie meinst du das?
Bella: Ach Leben, mir kommt es so vor, als ob du vom Leben nicht den leisesten Hauch einer Ahnung hättest!
Leben: Erkläre es mir!
Bella: Das kann ich nur, wenn ich dir ein wenig von meiner Kindheit erzähle.
Leben: Oh ja, mach das, ich bin ganz Ohr.
Bella: Früher in meiner Kindheit, hatte ich keine Freunde, denn ich hatte vor den anderen Kindern Angst. In der Schule wurde ich auch oft gehänselt, weil ich in den Schulpausen oft lieber ganz für mich und unbeteiligt das wilde Treiben auf dem Pausenplatz beobachtete. Überhaupt hasste ich Pausen. Ich war immer froh, wenn ich mich wieder in meinen Schulbank setzen konnte. Ich fühlte mich auch in meiner Familie allein und unverstanden. Alle Anderen, meine Eltern, meine Geschwister, die Lehrer und die anderen Kinder standen sozusagen auf der anderen Seite einer trennenden Linie zwischen mir und ihnen. Den einzigen Zugang zur Welt der Anderen boten mir meine Playmobil-Figuren. In den schützenden vier Wänden meines Kinderzimmers spielte ich stunden- ja tagelang die Welt der Anderen mit diesen Figuren nach. Alles war vorhanden, Autos, Häuser, Kinder, die zur Schule gingen und Erwachsene, die ihrer Arbeit nachgingen. Ich war mitten drin und hatte die Hauptrolle in diesem Welttheater, das die Handschrift meiner persönlichen Inszenierung trug. Auf diese Weise baute ich mir eine perfekte Illusion auf, die ich im Erwachsenenleben in meinem Häuschen mit Garten immer weiter und weiter aufrecht hielt. Früher bewegte ich meine Spielfigur durch die Räume des Puppenhauses, jetzt bin ich die Verkörperung dieser Spielfiguren. Wie damals lebe ich in der Illusion, in meinem Zimmer mit den Anderen Verbunden zu sein und wie damals fühle ich mich nur in meinen vier Wänden handlungsfähig und mit dir verbunden.
Leben: Ich glaube, ich verstehe dich ein wenig. Doch nun in deiner neuen Wohnung könntest du doch genau so weiter machen. Wo liegt das Problem Bella!? Auch hier hast du ja wieder deine eigenen schützenden vier Wände. Warum hast du nun plötzlich das Gefühl, dass deine Welt in sich zusammenbricht?
Bella: Ach Leben, wie ich vorher schon vermutet habe, bist du wirklich schwer von Begriff! Du sagst immer wieder, ja nun verstehe ich dich, doch aus deinen Antworten und Fragen merke ich, dass du immer noch auf der anderen Seite des Tales stehst. Wie bedrückend für mich, ich hatte mir von deinem Besuch mehr erhofft!
Leben: Gib nicht gleich auf Bella! Du erwartest zu viel von mir! Ich bin das Leben, nichts weiter als das Leben, naiv, wild und unbeholfen. Damit musst du dich schon abfinden. Komm mir doch ein wenig entgegen von deiner Talseite!
Bella: Okay, du hast ja recht, ich versuche es.
Leben: Gut, erzähle weiter!
Bella: Nachdem ich irgendwann mit dreizehn oder vierzehn die bittere Erfahrung machen musste, dass es sich nun für mich wohl endgültig erledigt hatte mit meinen Playmobil-Figuren, machte ich einige Versuche, in dir bestehen zu können. Erinnerst du dich nicht mehr an diesen wilden Teenager, der voller Rebellion und Lebenslust war?!
Leben: Ehrlich gesagt ---- nein, Bella, denn solche Teenager gibt es zu tausenden.
Bella: Ja, natürlich, aber ich erinnere mich noch genau an dich, denn ich ging fast an dir zugrunde!
Leben: Ja vielleicht.
Bella: Ich hatte keine Chance, dich zu verstehen. Du warst mir fremd, unangenehm und definitiv zu anstrengend. Daher suchte ich für mich eine Möglichkeit, meine Playmobil-Welt weiter zu leben und fand sie in meinem lieben und unglaublich guten Mann.
Leben: Das musst du mir erklären!
Bella: Ja natürlich, das habe ich mir schon gedacht. Sei nicht so ungeduldig, lass mich einfach noch einwenig erzählen!
Leben: Okay, wollen wir uns dabei ein wenig die Beine vertreten?
Bella: Ich nehme deine Unruhe zur Kenntnis und übergehe sie. Kann ich dich mit einem Stück Apfelkuchen zum bleiben bewegen?
Leben: Ja, ich glaube, das könntest du durchaus. ---- Bella, ich muss sagen, nicht schlecht! Doch sag, inwiefern hat dein Mann deine Playmobil-Welt ersetzt?!
Bella: Meine Welt, die mich bereits als Kind wie ein Cocon einhüllte, setzte sich ja nicht nur aus meinen eigenen vier Wänden zusammen. Ich spielte mit meinen Figuren vielmehr die Welt und die Beziehungen der Anderen nach. Ich spielte das Leben nach! Dieser Cocon besteht daher heute nicht nur aus einem Häuschen mit Garten, sondern ganz wesentlich auch aus meiner Ehe.
Leben: Das musst du mir genauer erklären.
Bella: Ich versuche es, doch ich fürchte, das ist gar nicht so einfach. Magst du noch ein Stück Kuchen?
Leben: Liebend gern! Ach und vielleicht noch einen Kaffee?
Bella: Aber natürlich, bitte entschuldige meine Unaufmerksamkeit!
Leben: Kein Problem!
Bella: Mein Leben als Ehefrau und auch mein Haus boten mir bis jetzt eine Daseinsberechtigung in der Unsichtbarkeit. Ich glaube, viele Hausfrauen leiden darunter unsichtbar zu sein. Ich habe genau diesen Status mein ganze Leben lang gesucht. Schon als Jugendliche träumte ich davon, Hausfrau zu sein.
Leben: Ja klar, du wolltest schon früh eine Familie gründen, die anders und liebevoller war, als die Familie, in der du aufgewachsen bist.
Bella: Nein, nicht aus diesem Grund! Deine Naivität erschlägt mich! Ich wollte keine Familie, das einzige, was ich wollte war meine Ruhe!
Leben: Deine Ruhe?!
Bella: Ja ich suchte instinktiv nach einer äusseren Legitimation für mein Leben in der Unsichtbarkeit meines Cocons. Meine Überzeugung bestand darin, dass ich durch eine Ehe mit einem guten, angenehmen, tüchtigen Mann, der einer geregelten Arbeit mit gewisser gesellschaftlicher Ankerkennung nach ging, die gesellschaftliche Legitimation für ein Leben in meiner Welt erhalten würde.
Leben: Und war das so?
Bella: Ja, ich glaube schon.
Leben: Und nun, allein in deiner neuen Wohnung, hast du das Gefühl, dass diese Legitimation gerade in sich zusammenbricht?
Bella: Ja, ich befürchte das ist so.
Leben: Warum befürchtest du das, genau das hast du doch gesucht, so wie ich dich bis jetzt immer verstanden habe!
Bella: Vielleicht, doch ich hätte nicht damit gerechnet, dass dieser Zusammenbruch des Schutzwalls mit einer derartigen inneren Eruption verbunden ist.
Leben: Andererseits könnte man auch sagen, dass du mich vielleicht auch etwas sanfter in deine Welt mitnehmen könntest.
Bella: Was soll das heissen, sanfter?! Sollte es nicht gerade dir klar sein, dass dies nicht möglich ist?
Leben: ----
Bella: Die Illusion dieses Cocons bestand darin, dass ich glaubte, dass die Anderen in mein reiches, wildes und kreatives Innenleben, das ich innerhalb meiner Welt ausleben konnte, ebenso integriert und involviert waren wie ich selbst. Die Anderen sind meine Playmobil-Figuren, die in meiner Welt mitspielen und mich in meiner Welt sehen, wie ich bin. Doch das ist in Wahrheit natürlich nicht so! Die Anderen sind lebende Menschen, die eben gerade durch meinen Cocon von mir ferngehalten werden. In Wahrheit sieht mich niemand, in Wahrheit nimmt keiner meine Fähigkeiten wahr, die ich innerhalb meiner Welt auslebe!
Leben: Das mag sein, doch was hat sich verändert, seit du in deiner neuen Wohnung bist?
Bella: Nun fühle ich mich plötzlich nicht mehr umhüllt von dieser Schutzhülle aus Ehe und Haus. Alles ist unsicher geworden, die Beziehung zu meinem Mann scheint sich gerade vor meinen Augen aufzulösen, mein Haus wird zum Sarg meiner alten Gewohnheiten und Abläufe. Plötzlich habe ich das Gefühl verloren zu sein, in einer Welt, die zwanzig Jahre lang ohne mich gelebt hat und die mich nicht braucht.
Leben: Das hört sich dramatisch an!
Bella: Was soll das heissen, dramatisch, nimmst du mich nicht ernst?! Ach so ist das, natürlich, wie könntest du mich auch plötzlich für voll nehmen, mein liebes Leben, wo du mich doch die ganze Zeit betrogen hast!
Leben: Meinst du nicht, dass du nun etwas ungerecht bist und dass du übertreibst?
Bella: Oh ganz bestimmt nicht, im Gegenteil! Es könnte sein, das mich mein Auszug zu dir und in ein sogenanntes neues Leben meine physische Existenz kostest. Es könnte sein, dass mein Hunger nach dir mein Ende sein wird.
Leben: Bella, du wirst nun sehr düster.
Bella: ---- Die Raupe verwandelt sich in einen Schmetterling ohne Flügel – nicht lebensfähig. Leben: Es gibt andere Möglichkeiten. ---- Wie wäre es, wenn ich dich an der Hand nähme, so dass du nicht ganz haltlos bist, wenn dich mein wilder Strudel mitreisst?
Bella: Ach Leben, ich habe genau zwei Möglichkeit: entweder bleibe ich mit meinem verkrüppelten Körper im Schutz des Cocons und verfehle dich oder ich versuche, mit gestutzten Flügeln dir entgegen zu fliegen, in ständiger Gefahr, an dir zugrunde zu gehen.
Leben: Wenn du es tatsächlich so siehst: wähle!
Bella: Ach gibt es eine Wahl – wählen wir jemals unser Leben?
Leben: ----
Bella: Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst.