Seit dem letzten Brief den Bella vom Leben erhalten hat ist nun bereits eine ganze Weile vergangen. Bella hatte genug vom Leben. Aus den Engelskarten zog sie dann jedoch die Karte "Geburt". Zuerst wusste sie nicht, was diese Karte mit ihr zu tun haben könnte. Doch dann hat sie Folgendes gelesen: "Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen." Nun wendet sich Bella erneut mit einem Brief ans Leben.
Mein liebes Leben
Was soll ich sagen, wo soll ich beginnen? So viel ist geschehen seit unserem letzten Briefwechsel. Du warst bitter enttäuscht von mir. Ich habe lange über deine Worte nachgedacht und ich bin mir nicht sicher, ob ich dich verstehe. Doch ich habe mir deine Worte zu Herzen genommen. Ich habe aufgehört nach dir zu suchen. Ich bin verändert – irgendwie. Ich habe aufgehört, mir deine Liebe zu denken. Ich gehe einfach an dir vorüber, ich laufe und laufe weiter. Meine Liebe zu dir war in Dunkelheit gehüllt. Nun beginnt sie zu knistern. Im Augenblick flackert sie gefährlich, wie ein Feuer, das sich noch nicht entschieden hat, ob es brennen oder für immer erlöschen will. Mir scheint, du hast mich krank gemacht! Ja ich klage dich nun an, mein liebes Leben! Du hast mich dumm gemacht, du hast über meine Liebe, über meine Sehnsucht nur gelacht. Gelacht und getanzt hast du und warst mir dabei immer voraus. Ich will, dass du weißt, wie es um mich steht: aus Liebe zu dir wollte ich alles wissen, nun sehe ich, dass ich nichts weiss. Doch ich habe begriffen: du bist nicht dies und du bist nicht das. Leben, die Greisenkatze Nini hat dich ausgehaucht! Und ich habe gesehen: du bist ein Stäubchen, du bist ein Nichts! Zu dir geht’s nur nach Nirgendwo. Doch dieses Nirgendwo scheint genau für mich gemacht.
Stell dir vor, mein liebes Leben, ich atme salzige Luft, so langsam kommt das Meer auf mich zu. Die Wellen umspielen schon meine Zehen! Ja, mein liebes Leben, du hörst richtig, ich habe meine roten Schühchen ausgezogen und stehe Barfuss vor dir! Gefallen dir meine nackten Füsse? Die Nacht scheint sich nun langsam zu verziehen und der Tag bricht an. Ich fühle es, es ist nun zu spät um umzukehren. Vielleicht habe ich bisher zu wenig auf mich aufgepasst. Ich gebe es gerne zu, ich habe mich verwirren lassen vom Getümmel, vom Geschrei und vom Gezerre, das du immer wieder veranstaltest. Ja genau! Du hast mich an der Nase herumgeführt in meinem Wissensdurst. Warum führst du mich nun zum Meer, warum muss mein Blick ohnmächtig in die Weite und Unermesslichkeit des Ozeans gerichtet sein, ohne Ziel, ohne Anhaltspunkt? Warum bist du so hart zu mir? Meinst du, dass ich es mir bisher zu leicht gemacht habe? Vielleicht ist das so. Vielleicht habe ich mich zu wenig gegen die Schwere gewehrt, mag sein. Doch nun lasse ich diese verheissungsvolle Leere auf mich einbrechen. Was gestern war ist nicht mehr. Ohne Rückhalt fange ich von vorne an und ich bin der Aufstand der jetzt aufsteht. Ich ändere mich nicht, es ändert sich für mich.
Mein liebes Leben, ich kann dir nichts versprechen. Doch ich sage dir, ich strenge mich für dich an. Ich werde eintauchen in deine unbekannten Tiefen und glaube mir, – auch wenn ich mich deiner Meinung nach zu sehr treiben lasse – bevor ich untergehe, werde ich schwimmen, ich werde schwimmen! Ich höre auf zu fragen und werde schwimmen bis ich von dir getragen werde. Ich weiss, ich bin nah an dir dran, es ist nun zu spät um umzukehren. Ich werde weiter gehen, ich werde zu dir gehen, ich werde einfach gehen.
Deine Bella
Meine liebe Bella
Sei vorsichtig mit deiner Seele, ich wohne in ihr! Nach jeder körperlichen Vereinigung werden die Seelen geistige Vereinigung anstreben. Sie werden versuchen, sich gegenseitig zu durchdringen. Darin besteht die Macht und die Schönheit des körperlichen Aktes. Wird diese Kausalkette unterbrochen, muss unweigerlich Angst und Leid entstehen. Die magische Kraft des körperlichen Eindringens birgt die Notwendigkeit der seelischen Öffnung. Wird diese Öffnung versagt, erlischt sowohl die körperliche wie auch die seelische Kraft.
Bella, deine nackten Füsse sind der Anfang, sie tragen dich zu mir. Du bist wunderschön in deiner Verletzlichkeit.
Dein Leben