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Achtsamkeit

Veröffentlicht am 25.06.2015

Das Wort „Achtsamkeit“ ist zu einem eigentlichen Zauberwort für unser Wohlbefinden und für eine „bewusste“ Lebensführung geworden. Die Vorstellung, das Leben im gegenwärtigen Moment zu erfahren und vollkommen im Hier und Jetzt zu sein, hat schon fast eine magische Wirkung auf uns. Doch was heisst es eigentlich, achtsam zu sein? Verstehen wir überhaupt, was wir meinen, wenn wir ein Leben in Achtsamkeit führen wollen?

Eine unbestreitbare Tatsache besteht darin, dass jeder von uns früher oder später sterben wird. Unser Leben besteht im Wesentlichen aus einem Vorlauf zur einzigen Gewissheit, die wir in unserem Leben haben – zu unserem eigenen Tod. Mit jedem einzelnen Atemzug bewegen wir uns unaufhaltsam in seine Richtung. Doch seien wir ehrlich, die meiste Zeit sind wir auf der Flucht vor der Realität des Todes. Wir fürchten uns davor und erfinden daher alle möglichen Theorien und Glaubenssätze über das Sterben und über den Tod. Hinter diesen Spekulationen steckt jedoch nicht der Wunsch, das Phänomen des Todes zu verstehen, sondern vielmehr im Gegenteil gerade der Wunsch die Tatsache des eigenen Todes zu verschleiern. Unsere Theorien über das Sterben lenken uns von unserer eigenen Realität, von unserem täglichen kleinen Sterben, ab. Mit all unseren Versuchen, die Tatsache, dass wir irgendwann, vielleicht morgen oder in einer Stunde, tot sein werden, zu verschleiern, lässt sich jedoch die Realität des Sterbens nicht wegdiskutieren. Wenn wir eine solche Tatsache über uns selbst und über unser Leben im Allgemeinen verstehen möchten, müssen wir ihr direkt und unbeirrt in die Augen sehen und dem Blick ihrer unverrückbaren Realität standhalten. Wir müssen sie anschauen und dürfen uns nicht durch geschickte Winkelzüge und Rationalisierungen klammheimlich aus ihrem Blickfeld davon machen.      

Jeder, der glaubt, dass Selbsterkenntnis wichtig ist, weil sein Leben in gewisser Weise dazu da ist, dieses „Ding“, das man „Selbst“ nennt, vollkommen zu verstehen, der wird sich irgendwann die Frage stellen, wie er es anstellen kann, sich selbst zu durchdringen. Wer sich diese Frage stellt, begibt sich auf den Weg der inneren Einsamkeit, den er gehen muss, um zu sich zu kommen.

Wenn wir uns in aller Konsequenz auf den Weg zu uns selbst begeben, wenn wir also nicht bloss die ersten zehn Seiten eines klugen Ratgebers zur „Selbstfindung“ lesen wollen, sondern den Weg vielmehr unter die eigenen Füsse nehmen möchten, dann werden wir radikal in die Gegenwart unseres täglichen Lebensvollzugs geworfen. Das Sich-kennen-lernen findet in der Gegenwart statt. Wir lernen, während wir etwas tun, während wir etwas sehen, schmecken, riechen oder hören. Das Lernen über uns begleitet uns in allem was wir tun und es ist dabei ständig im Fluss. Wenn wir uns auf ein derart lebendiges Lernen tatsächlich einlassen wollen, müssen wir in allem, was wir tun, unserem alltäglichen Lebensvollzug, d.h. dem Vollzug von dem was wir sind, bewusst werden. Dies erfordert eine grosse Sensibilität, denn unser Körper und unser Geist müssen dazu ständig lebendig und geschmeidig sein. Ich denke, es ist sehr schwer, sich selbst gegenüber sensibel zu sein. Denn wir geben uns eigentlich den ganzen Tag über weg. Wir leben mit der Vorstellung, den lieben langen Tag über bereits genug Aufmerksamkeit für andere und anderes gegeben zu haben. Diese Vorstellung kann uns die Hinwendung zur inneren Einsamkeit erschweren, denn sie macht uns träge, sie macht sowohl unseren Körper mit seinen organischen Vorgängen wie auch unseren Geist, der in diesen körperlichen Vorgängen eingewoben ist, stumpf und müde. In dieser Müdigkeit liegt eine grosse Gefahr für diejenigen, die sich auf den Weg zu sich selbst aufmachen wollen. Denn indem wir uns an die Gesellschaft der Anderen und an die Dinge ausgeben, verlieren wir den Sinn für die innere Einsamkeit.

Ich denke, dass das Wort „Achtsamkeit“ eine bestimmte Form darstellt, diese inneren Einsamkeit zu kultivieren. Die Achtsamkeit ist das Vermögen, sich in ungeteilter Aufmerksamkeit, d.h. mit Haut und Haar, mit allen Poren unseres Körpers auf uns selbst hin, wie auch auf Gegenstände ausser uns, auszurichten. Die Achtsamkeit ist somit in gewisser Weise eine Art Gegenbewegung zur Konzentration: während die Konzentration ein Ausschlussverfahren ist, schliesst die Achtsamkeit gerade alles ein, indem sie ein umfassendes Gewahrsein ermöglicht.  

Das Vermögen der Achtsamkeit zu kultivieren ist kein Selbstzweck, es zielt vielmehr darauf ab, eine Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ zu finden. Denn indem wir uns in Achtsamkeit üben, öffnen wir unseren Blick für unser eigenes Selbst – und zwar in allem was wir tun. Dabei wird unser Blick mehr und mehr klar für unsere wirkliche Natur.

Diese Entwicklung hin zu unserem Wesen hat einen „Nebeneffekt“ der uns tatsächlich ins Glück führen kann, sie macht uns in umfassender Weise frei. Je mehr sich uns nämlich unser eigenes Selbst als das was es ist enthüllt, umso mehr entwickelt sich in uns die Fähigkeit loszulassen. Plötzlich sind wir fähig uns ins Nichts oder in die Leere fallen zu lassen und wir gelangen an einen Ort, wo wir unsere Konzepte, die wir uns von uns selbst und von den Dingen ausser uns machen, nicht mehr benötigen. Wenn wir an diesem Ort sind, werden wir uns immer, in allem was wir tun oder nicht tun, nur auf einen Gegenstand ausrichten. Dieses Ausrichten auf einen Gegenstand ist eine Art Verweilen im Einen, wo es keine Beziehung und damit keinen Widerstand mehr zwischen dir und dem Gegenstand gibt (sei dies nun dein Selbst oder ein Gegenstand ausserhalb). Weil du den Gegenstand als dein Konzept vom Gegenstand losgelassen hast, wird eine völlige Verschmelzung zwischen dir und dem Anderen im Raum der Freiheit möglich.

Die Aufforderung, sich selbst auf der Yogamatte in Achtsamkeit zu üben zielt darauf ab, irgendwann, durch den Übungsprozess, der auf der Matte beginnen kann und sich schliesslich in allem was du den lieben langen Tag so tust manifestieren kann, klar und offen im Hinblick auf dich selbst zu werden. Diese Klarheit eröffnet dir die Möglichkeit, deine Motive, Sorgen, Ängste und Freuden als das zu sehen was sie sind. Ohne jegliche Ausflüchte hältst du dabei ihrem Blick stand. Wenn wir unsere Motive als das sehen, was sie sind, versuchen wir sie weder durch vorschnelle Erklärungen und Beschönigungen noch durch Verurteilungen zu verwässern, wir lassen sie vielmehr als klare, reine Tatsachen stehen und schauen sie an. Unmittelbar und furchtlos schaust du auf deine Angst, umarmst sie und du gibst ihr die Achtung, die sie als das was ist, verdient. Weder deine Bilder noch die Meinungen der Anderen verhüllen deine Freude, du blickst ihr geradewegs ins Gesicht.

Die Aufforderung, dich nicht durch andere – oft belanglose Dinge – vor dir fernzuhalten, zielt darauf ab, deiner ständigen Intention, dich von äusseren oder inneren Einflüssen ablenken zu lassen, nicht nachzugeben. Der Versuch, ganz für dich da zu sein, für dich zu sorgen, mündet schliesslich in einen Erkenntnisakt, der dich zum Ganzsein in allem was du tust bringen kann. Das Üben auf der Matte kann ein Anfang sein und es kann dein Vorhaben, in den Prozess des Loslassens einzutreten, unterstützen. Es kann dich sehend und damit verstehend machen für das was du bist, wenn du die Wohnung putzt, wenn du TV schaust, wenn du dich in unzähligen Bekanntschaften und Gesprächen ergehst. Ich glaube es kann schliesslich dazu führen, dass du lachen kannst über dich und über die Welt und dass dich dieses Lachen in einem wilden Tanz in die Freiheit führen kann. 

Bella